Der Hals der Giraffe muss schon lange für die Erklärung evolutionärer Prozesse herhalten. Lamarck ging Anfang des 19. Jahrhunderts noch davon aus, dass sich der Hals der Giraffe dadurch veränderte, dass diese ihren Kopf immer mehr strecke, um an höhergelegene Blätter zu kommen. Diese durch die Umstände geformte Veränderung habe die Giraffe dann an ihre Nachkommen gegeben. Über Generationen konnten so die Giraffen immer längere Hälse entwickeln.
Natürliche Selektion
Mit der Beschreibung der Evolutionstheorie in „Über die Entstehung der Arten“ beschrieb Darwin Mitte des 19. Jahrhunderts einen alternativen Prozess, der bis heute im Kern noch gilt, die natürliche Selektion. Darin beschreibt er, dass Tiere sich nicht aktiv an die Umwelt anpassen, sondern es eine natürliche Variation in den Arten gibt. Lebewesen die besser an ihre Umwelt angepasst sind, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit zu überleben und ihre Gene an ihre Nachkommen weiter zu geben.
Im Fall der Giraffen heißt das, dass es Urgiraffen mit längeren und kürzeren Hälsen gab. Die Giraffen mit längeren Hälsen kamen besser an die hoch gelegenen Blätter und hatten so einen Überlebensvorteil gegenüber ihren Artgenossen mit kürzeren Hälsen. Weil diese Giraffen dadurch eine höhere Überlebensrate hatten, konnten sie mehr Nachkommen produzieren, die die Eigenschaft eines langen Halses vererbten. Auch in diesen Nachkommen gab es wieder eine Varianz, wobei erneut die Giraffen mit längeren Hälsen aufgrund der Umweltbedingungen mehr Nachkommen produzieren konnten, es wurde also für einen langen Hals „selektiert“.
Sexuelle Selektion
Darwin beschrieb aber noch eine weitere Form der Auslese, nämlich die sexuelle Selektion. Durch die sexuelle Fortpflanzung konkurrieren Lebewesen in ihrem Geschlecht um den oder die beste Fortpflanzungspartner:in. Ein Paradebeispiel dafür ist der Schwanz der männlichen Pfauen. Dieser ist für das Überleben eher hinderlich, kann also nicht mit der natürlichen Selektion erklärt werden. Da allerdings nur fitte, gesunde Pfauen ein prächtiges Federwerk hervorbringen, zeigt er genau diese Eigenschaften auch potentiellen Partnerinnen. Ein weiteres Beispiel sind Walrosse; hier werden die Bullen doppelt bis dreimal so groß wie die Weibchen, damit sie sich im Kampf mit Artgenossen bestehen können.
Bereits vor 25 Jahren schlugen Robert Simmons und Lue Scheepers vor, dass der lange Hals der Giraffen sich durch sexuelle und nicht natürliche Selektion entwickelt habe. Sie führten dafür die Argumente ins Feld, das Giraffenbullen ihre langen Hälse nutzen, um Revierkämpfe auszutragen und um Weibchen zu buhlen. Zudem zeigen empirische Daten, dass Giraffen in einer Dürreperiode keinen direkten evolutionären Vorteil gegenüber Artgenossen haben.
Aktuelle Studie
Eine neue Studie scheint diese Hypothese nun zu unterstützen. Forscher fanden in China die Fossilien einer Urgiraffe (Discokeryx xiezhi, benannt nach dem asiatischen Einhorn-Fabeltier Xiezhi), die eine dicke, scheibenförmige Struktur auf dem Kopf trug, die vermutlich mit einem Horn. Die Forscher vermuten, dass die Urgiraffen im Kampf mit Artgenossen, ähnlich wie heutige Steinböcke, ihre Köpfe gegeneinander rammten. So könnte dieser Fund zeigen, dass Giraffen diese Form des Kampfes evolutionär schon sehr lange nutzen und er daher eine Triebfeder für die Entwicklung des langen Halses darstellen könnte.
Geschlechterdimorphismus
Ist das Rätsel um den langen Hals der Giraffe damit gelöst? Leider nicht ganz. Normalerweise entwickelt sich im Rahmen der sexuellen Selektion ein Geschlechterdimorphismus. Männliche Walrösser sind größer als weibliche, nur männliche Pfauen können mit ihrem Federkleid ein Rad schlagen usw. Weibliche Giraffen haben aber praktisch einen genauso langen Hals wie die Männchen.
Aktuelle Erklärungsansätze
Daher gehen heutige Erklärungsansätze davon aus, dass der lange Hals der Giraffe aus einer Mischung aus natürlicher und sexueller Selektion entstanden ist. Sowohl im Kampf wie auch als Fressnische (nur wenige andere Spezies konkurrieren um die hoch gelegenen Blätter) hat sich der lange Hals bewährt. Beide Faktoren haben dazu geführt, dass Giraffen mit langen Hälsen erfolgreicher waren und so mehr Nachkommen in die Welt setzen konnten.
